Authentische Visuelle Erfahrungen

Prof. Dr. Muhamed Karamehmedovic
Prof. Dr. Muhamed Karamehmedovic

Muradif Cerimagic, geboren und aufgewachsen in der gleichen Umgebung wie ich, in derselben Atmosphäre einer schönen Stadt, die Trebinje heißt, war und blieb als Mensch eine sonderbare und problematische Gestalt. Heute, wenn ich dem künstlerischen Werk dieses Sonderlings, dieses Vorhersehers, aufs Neue begegne, tragen mich meine Gedanken nicht zu der Akademie, an der er Student war, sondern in das Morgengrauen jenes unglückseligen Krieges, der uns alle aus dem Sattel geworfen hat, der uns aus dem geliebten Trebinje vertrieben und ins Ungewisse gejagt hat. Mir ist die gekreuzigte, sonderbare und dramatische Atmosphäre in seinen damaligen Bildern in Erinnerung geblieben. Das waren (vorweggenommene) malerische Interpretationen, zeichnerisch-assoziative und ruhelos raumgreifende Visionen einer menschlichen Tragödie, eines unglücklichen menschlichen Schicksals, das sich gerade bei uns in Trebinje erfüllte – wie auch in ganz Bosnien und Herzegowina. Das waren Bilder, die durch das Zeichnen, durch eine rastlose Konturlinie, die nur hier und dort eine Form definiert, allmählich mit dem umgebenden Raum verschmolzen, um dann in dieser inneren dramatischen Atmosphäre zu ertrinken.

 

Während des Krieges malte dieser “Künstler-Seher” auch ein Bild namens “Ein Tag in Sarajewo” und schon wieder ist es eine apokalyptische Atmosphäre. Da sind Metaphern und Symbole, da sind Särge, über denen das Licht emaniert, und Minarette als Symbol der kosmischen und irdischen Personifikation. Da ist auch die graphische Interpretation im zweidimensionalen Anknüpfen an das Symbol von Mostar und der Brücke, die es nicht mehr gibt. Da ist El Grecos Verschmelzen des Himmlichen mit dem Irdischen und da sind manchmal angerissene sonderbare Ideen, die im darstellenden Sinne erst abschließende Akzente benötigen. Da gibt es eine tiefe Sondierung und eine große Spannweite mit Beispielen von stilistischen Varianten des Strukturalismus, der Kollage und der abstrakten Interpretation.

 

Im Grunde bewegen wir uns in der Ausstellung von Muradif Cerimagic zwischen den äußersten Punkten der Avantgarde der Achtziger und der Postavantgarde, und es ist, als ob wir in der Enzyklopädie der malerischen Möglichkeiten blätterten. Wenn sie modern ist und einige Filter hat, also in diesem Sinne postmodern, wie in einigen Grafiken, Zeichnungen und Bildern, sehen wir Cerimagic als einen Maler, der alles, was an die Moderne erinnern könnte, beschneidet. Er schafft aus dem Detail und dem Fragment neue Ganzheiten, oder er suggeriert sie, was im Grunde das Prinzip der Postmoderne ist.

 

Cerimagic gleitet durch die Zeit und den Raum europäischer Kunst in den letzten Jahrzehnten. Durch die beschriebenen, aber auch durch weitere stilistische Varianten erforscht er die Möglichkeiten einer unbegrenzten Originalität und drückt in seiner authentischen visuellen Erfahrung den magischen Widerschein der Modernen in der Postmodernen aus – so, wie es auch geschah: der erste Impuls der Avantgarde war der Wunsch, die Welt neu zu sehen. “Diese Motivation, diese Notwendigkeit, den Ursprung der Kunst und des kreativen Lebens erneut zu entdecken, trennte den modernen Künstler von der Kunst aller anderen Epochen der westlichen Zivilisation.”

 

Cerimagic ist ein moderner Künstler und gleichzeitig ein Maler, der mit einer Welt konfrontiert wird, die oft zerstörerisch ist, ohne Tradition und Kontinuität. Er war oft in jeder Sphäre seines Lebens weit von dem entfernt, was man westliche Errungenschaften nennt. Cerimagic hat begriffen, daß die Rolle des Künstlers als Hüter von Tradition und ethischen Werten der eigenen Kultur eine undankbare Arbeit ist, und aus diesem Widerspruch zu bestimmten revolutionären Ideen entwickelte er seine Auffassung über die Funktion der Kunst in einer modernen Welt.

 

Unter den heutigen Bedingungen – Krieg und eine zerstörerische Zivilisation – blickt Cerimagic retrospektiv auf so viele originelle Visionen, die in der modernen Periode entstanden sind, läßt sie kritisch durch den Filter der eigenen Empfindsamkeit gleiten und stellt ihre erhabenen Werte und Originalität in Frage. Die Reduktion der Wirklichkeit, die das Zeitgenössische bietet, und unsere Sachlichkeit gehen ihm scheinbar zur Hand, um die Geschichte der modernen Kunst mit seiner Stilpluralität und nach seinen eigenen Regeln auszulegen und fortzuschreiben. Und er demonstriert auch in dieser Ausstellung im Rahmen des “Sarajevska Zima”: “nicht das, was wir absolute Notwendigkeit nennen könnten, sondern zweideutige Natur aller Stile und relative Wertigkeit bestimmter Stile.” Diese Option ist der protestierenden Vorherseherfähigkeit dieses Malers und der Imagination jenes sonderbaren Künstlers vorbehalten; sie ist nicht Verklärung des künstlerischen Genies.

 

Prof. Dr. Muhamed Karamehmedovic

Sarajevo, 1999