Nostalgie in Körper und Seele

Planinka Mikulic
Planinka Mikulic

Muradif Cerimagic ist einer dieser ersten und besten Generation der Akademie der bildenden Künste in Sarajevo, und er hat sich mit seiner Arbeit immer abgehoben von den anderen. Während die anderen von dieser besonderen Akademie geträumt haben, hat er die Abgeschiedenheit und Ruhe von Lastva gewählt - verliebt in die Berge seines Geburtsortes; und heute malt er meisterhaft und stumm einer fremden großen Stadt in einem fremden Land. Daher rührt aber wahrscheinlich diese gewisse Wahrheit in seinen neuen Arbeiten: aus seiner leidenschaftlichen Verbundenheit zu den Bildern der verlorenen Heimat, in welchen er auch an seinen Bruder erinnert wird - zwei kleine Jungen, die zusammen gehörten in den verlorenen Jahren ...

 

Nun aber ist all das nicht mehr als eine Fotografie; ein Bild in einem Fotoalbum ist die einzig gebliebene Erinnerung: das ist wie Heraldik von seiner Melacholie, seiner Selbstvergessenheit; Erinnerung an alles, was ihm geblieben ist und was es nicht mehr gibt. Erinnerung an ein Geheimnis, an seine Familie, an seine Heimat, an sein Leid, an seinen gekreuzigten Christus, mit dem er eigentlich schon vor zehn Jahren die heutige Zeit und sein Schicksal vorweggenommen hat. Sein ganzes Leben spiegelt sich in dieser impressiven schwarzen Leinwand, die die damalige Austellung “Collegium Artisticum” dominiert hat, und in diesen neuen kleinen Bildern: das intime Tagebuch des Malers. Um Cerimagics Handschrift lesen zu können, wird jetzt ein ernsthaftes Kunstverständnis vorausgesetzt. Das ist aber erst dann möglich, “wenn wir die Sprache in der Kunst nicht sehen, wenn Sachen und Situationen nicht einfach auf gewöhnliche Weise benannt werden, sondern sie sich lediglich durch die vorherrschenden Verhältnisse in dieser Welt erschließen, dies aber wiederum nur in einer Hieroglyphen-Schrift, zu der man eine Übersetzung braucht. Und für eine solche Beziehung zur Welt bedarf es sowohl einer Beziehung zum Menschlichen als auch zu Unmenschlichem und darüber hinaus auch einer Beziehung der Menschen zu einem selbst – der Terminus der Nähe wäre somit eingeführt....” (W. Biemel, philosophische Analyse moderner Kunst)

Und darum, wer diese verschiedenen “Nähen” nicht gefühlt und ausgekostet hat, die Nähe, die diesen Maler geformt hat, seine Themen und seine Art nicht kennt, der vermag nichts zu sehen - auch nicht sein “Sarajevo 1996”: weder die blutende Sonne, noch den wunderbaren, leuchtenden Strahl, der sich an dem Sarg bricht, bereit, die Verstorbenen einzuhüllen in sein Weiß, weder die gewohnte Nähe noch den Verlust der wartenden Silhouette an der Tür, einer Tür, wo der Tod wartet oder auch nicht - egal, es hat keinerlei Bedeutung mehr.

 

Gewidmet “meinem lieben Bruder” ... Am Ende dieses großen Bildes mit dem kleinen Format kann man sein ganzes Leben ablesen, schält es sich aus diesem Bild Schicht für Schicht; und die Schichten führen direkt zu Baseskije (Schriftsteller aus dem 17. Jahrundert) und zu den Schriften aus einer anderen Zeit und über andere Menschen, die damals genauso eigentlich “gar nichts falsch gemacht” haben, sie haben lediglich “kein Glück gehabt; und nur aus diesem Grund wurden sie umgebracht”.

 

Wenn ein Mensch seine Heimat verliert, ist seine Geschichte in ihrer Endgültigkeit sehr tragisch. Doch selbst wenn man einem Maler sein Recht auf Heimat nimmt - nimmt er gleichwohl seine Heimat mit und läßt diese in seiner Phantasie zu neuem Leben erwachen, zwar nur in der Erinnerung, aber stets im Dialog mit seinem eigentlichen Ursprung, dort wo alles anfängt ... Und so wird Lastva, wo er spazierenging, wo er seine kostbaren Bilder gemalt hat, wo er als Student seine Semesterferien verbrachte, wo er sich in die Abgeschiedenheit zurückziehen konnte und wo seine besten Kunstwerke entstanden sind, zum Zentrum seiner neu geschaffenen Welt. In dieses Lastva kommen Barone, Professoren, Maler, die schönsten Frauen, Schauspielerinnen und Kritiker ... Magische Piktogramme und Striche eröffnen andere Welten - Mysterien, die nur noch dem lebendigen Erinnern anvertraut sind und von dort große gelbe Sonnen ausstrahlen, die sich am hellen Firmament potenzieren. ... Und langsam breitet sich Heiterkeit aus: auf dem Gras und dem Wasser und den wunderschönen Zweigen und den Wurzeln, die sich in einem seichten Wasser wohlig wälzen.

 

Das, was Muradif Cerimagic in seinem Exil gemacht hat, verkörpert eine tiefe Nostalgie, ist als Bild konkreter Ausdruck von Gefühlen. Damit wir aber sagen können, daß ein Werk wirklich Kunst ist, muß es frei sein von Pathetik, braucht es die intellektuelle Synthese. Einmal sagte mir ein anderer sehr großer Maler aus Bosnien: “Es gibt keine gerade Linie in einer empfindsamen Welt, sie ist vielmehr ein magisches Piktogramm und eine kleine Sehnsucht der menschlichen Seele, etwas, das auf einem weißen Stück Papier geheime Spuren und irgendwelche Konturen schreibt. Als ich anfing zu malen, habe ich verstanden, daß ein Kunstwerk eigentlich nur mein Signum ist, mein einziges Vermächtnis, alles was ein Vater hinterlassen kann, mein verdammtes Testament vor den Augen dieser Welt ... mein Bild. Das ist wie ein Strauß trockenen Rosmarins in einem braunen Filjan (traditionelles Gefäß, aus dem Kaffee getrunken wird) auf der Kommode meiner Liebsten, die nicht mehr am Leben sind.” Und Cerimagic malt genau solche Bilder, Bilder der Wahrheit. Das ist die Wahrheit von Leben und von Tod, von Liebe und von Gleichgültigkeit, von Schönheit und von Häßlichkeit, von Ruhm, von Nichtigkeit und erzwungener Einsamkeit, von Glaube und von Zweifel. Ungeklärte und geklärte Niederlagen. Und Siege. Und all das beinhaltet “Sarajevo 1996”, führt die anonymen Toten hin zu Unsterblichkeit. Mit seiner malerischen Intention schafft er eine neue Zeit und unter gleichzeitiger Anwendung verschiedener Stile prägt er seinen Stil, hinterläßt seine individuellen malerischen Spuren und Zeichen. ...

 

Planinka Mikulic

Sarajevo, 1997